Am Geschmack erkannt – trifft dies auch auf komplexe Kohlenhydrate zu?
Autor/in: Dr. oec. troph. Christina Bächle,
Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit
Dienstag, 8. November 2016
Süß, sauer, salzig, bitter und seit sieben Jahren umami – so heißen die allgemein anerkannten Grundgeschmacksrichtungen. Zu diesen primären Geschmacksrichtungen könnte sich bald eine weitere dazugesellen. Denn, wie Wissenschaftler der Oregon State University in Corvallis berichten, Menschen können auch komplexe Kohlenhydrate in Brot, Reis und Co. direkt erschmecken.
Bislang ist man davon ausgegangen, dass wir komplexe Kohlenhydrate nicht direkt geschmacklich wahrnehmen können, sondern nur, wenn diese aus vielen einzelnen Zuckermolekülen bestehenden Verbindungen bereits durch Enzyme in Ein- und Zweifachzucker (sogenannte Mono- und Disaccharide) aufgespalten wurden. Über diesen Umweg, der bereits in der Mundhöhle durch den Speichel in Gang gesetzt wird, können auch die Zuckermoleküle aus komplexen Kohlenhydraten indirekt über den Rezeptor für Süßgeschmack auf der Zunge erschmeckt werden.
Assistenzprofessorin Dr. Juyun Lim und ihre Kollegen hegten allerdings den Verdacht, dass ein Weg existiert, über den komplexe Kohlenhydrate direkt wahrgenommen werden können. Komplexe Kohlenhydrate sind eine wichtige Energiequelle in unserer Ernährung. „Jeder Kulturkreis hat seine eigene Hauptquelle für komplexe Kohlenhydrate“, argumentiert Lim. „Die Vorstellung, dass wir nicht schmecken können, was wir essen, macht keinen Sinn.“ Daher bestand das Ziel der Wissenschaftler darin, mit einer Versuchsreihe zu klären, ob Menschen komplexe Kohlenhydrate direkt, also ohne den Umweg über den Süßrezeptor, wahrnehmen können.
Hierfür baten die Wissenschaftler 100 Testpersonen, verschiedene kohlenhydratreiche Testlösungen zu probieren. Dabei stellte sich heraus, dass die Probanden stärkereiche Lösungen, die längere oder kürzere Kohlenhydratketten enthielten, an ihrem Geschmack erkannten. „Sie bezeichneten den Geschmack als ’starchy‘ [stärkehaltig]“, erläutert Lim. „Asiaten würden sagen, dass er nach Reis schmeckt, Kaukasier würden ihn als brot- oder pastaartig beschreiben. Es ist so, als würde man Mehl zu sich nehmen.“
Als nächstes blockierten die Wissenschaftler den Zungenrezeptor für Süßgeschmack mit Lactisol. Die Tatsache, dass die Probanden den mehligen Geschmack weiterhin identifizieren konnten, spricht dafür, dass wir Kohlenhydrate auch schmecken, bevor sie komplett zu Einfach- und Zweifachzuckern abgebaut werden.
Unterscheidet sich die geschmackliche Wahrnehmung auch durch die Länge der komplexen Kohlenhydratketten? Um diese Frage zu beantworten, blockierten die Wissenschaftler nun ein Enzym, das lange Kohlenhydratketten in kürzere aufspaltet. Der sich anschließende Geschmackstest offenbarte, dass lediglich Kohlenhydratketten, die im Mittel aus 7 bis 14 Bausteinen aufgebaut sind, erkannt werden.
Damit spricht vieles dafür, dass komplexe Kohlenhydrate beziehungsweise ein Teil ihrer Abbauprodukte einen eigenen Geschmack besitzen. Bevor der Stärkegeschmack als eigene primäre Geschmacksrichtung anerkannt wird, müssen die Wissenschaftler jedoch weitere Belege erbringen. Zu den Bedingungen zählt, dass die neue Geschmacksrichtung wiedererkennbar ist, eigene Rezeptoren auf der Zunge besitzt und eine nützliche physiologische Reaktion auslöst.
Lim und ihre Kollegen sind zuversichtlich, dass der Stärkegeschmack all diese Kriterien erfüllt. Die Energie aus komplexen Kohlenhydraten wird langsam freigesetzt, was diese Energiequelle besonders wertvoll und attraktiv zu erschmecken macht. „Ich glaube, dass Menschen deshalb komplexe Kohlenhydrate bevorzugen“, meint Lim. „Zucker schmeckt kurzfristig großartig, aber wenn man Ihnen Schokolade und Brot anbietet, würden Sie wahrscheinlich eine kleine Menge der Schokolade essen, dann aber für größere Mengen oder als tägliches Grundnahrungsmittel das Brot auswählen.“
Quellen einblenden
- Newscientist (2016): There is now a sixth sense – and it explains why we love carbs. Pressemitteilung vom 02.09.2016
- T. J. Lapis, M. H. Penner, J. Lim (2016): Humans can taste glucose oligomers independent of the hT1R2/hT1R3 sweet taste receptor. Chemical Senses, Online-Vorabveröffentlichung
verfasst von Dr. oec. troph. Christina Bächle am 8. November 2016 um 07:36
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