Eine gute Nacht dank „Nachtmilch“

Autor/in: , Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit

Dienstag, 26. Juli 2011

Mond
© bilbord99

In Deutschland leidet etwa einer von vier Erwachsenen unter Schlafstörungen. Damit zählen Schlafstörungen zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden der Bevölkerung (Robert Koch Institut 2005). Doch nicht jeder Betroffene greift gerne zu medikamentösen Einschlafhilfen und an diesen Personenkreis wenden sich Anbieter von Nachtmilchkristallen. Sie versprechen Hilfe bei Schlafstörungen, Jetlag und einen erholsamen Schlaf – auf ganz natürliche Weise mit sogenannter Nachtmilch.

Das Prinzip klingt einfach und doch genial: „Nachtmilch“ ist Milch von Kühen, die mitten in der Nacht gemolken werden. Sie enthält besonders viel Melatonin. Das sogenannte „Schlafhormon“ steuert den Tag-Nacht-Rhythmus von Menschen und Tieren. Laut Herstellerangaben lässt die menschliche Eigenproduktion von Melatonin ab dem 25. Lebensjahr deutlich nach. Auch Bewegungsmangel, schlechte Ernährung, Stress, Fernreisen, Nachtarbeit und Elektrosmog können den Melatoninspiegel beeinflussen und Schlafstörungen verursachen. Statt medikamentös einzugreifen, bietet der Hersteller Nachtmilchkristalle an. Dabei handelt es sich um ein kristallines Pulver, das durch Entfettung und Gefriertrocknung von Nachtmilch entsteht. Für eine optimale Wirkung soll es eine Stunde vor der Bettruhe in Milch, Joghurt oder andere Milchprodukte eingerührt verzehrt werden.

Kühe bei Nacht
© Vlad Nikitin

Der „natürliche Schlaf“ hat jedoch seinen Preis: 16 Portion zu je 12 g kosten 24,90 € (zzgl. 3,90 € Versandkosten), dies entspricht einem Einzelpreis von 2,08 € (ohne Versand). Ist der hohe Preis gerechtfertigt? Verbraucherschützer haben ihre Zweifel an der Wirkung des Produkts. Die von dem Hersteller wiederholt zitierte Studie, die von der Innovationsberatung Weihenstephan durchgeführt wurde, kann schon aufgrund der geringen Anzahl von untersuchten Personen (40) allenfalls als Pilotstudie angesehen werden und lässt viele methodische und inhaltliche Fragen offen. In einer Untersuchung der tierärztlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München wurde festgestellt, dass Nachtmilch zwar einen fast zehnfach höheren Melatoningehalt aufweist als tagsüber gewonnene Milch, dennoch hatte das Verfüttern von Nachtmilch keinen Einfluss auf den Tag-Nacht-Rhythmus von Kälbern.

Kritisiert wird außerdem die geringe Menge Melatonin, die in einer Einzelportion Nachtmilchkristalle enthalten ist. Nach Nährwertangaben des Herstellers befindet sich darin vermutlich 1.800 pg (1), entsprechend 0,0000018 mg Melatonin. Das verschreibungspflichtige Schlafmittel Circadin® enthält dagegen 2 mg des Wirkstoffes. Demnach wären 1,1 Millionen Einzelportionen von Nachtmilchkristallen erforderlich, um dieselbe Wirkung zu erzielen! Selbst bei einer erhöhten Bioverfügbarkeit von Melatonin aus „natürlichen Lebensmitteln“ bleiben Zweifel an der Wirksamkeit des Produkts.

Milch und Cookie
© aimeewenske

Das Redaktionsteam der Zeitschrift „Gute Pillen – schlechte Pillen“ (2) sieht Nachtmilchkristalle als teure Plazebos (Scheinarzneimittel ohne Wirkstoff). Seiner Ansicht nach hätte ein Glas normale Milch dieselbe Wirkung bei deutlich geringerem Preis. Darüber hinaus wird auf die Haltung der Kühe hingewiesen. Zwar wird bei den Tieren streng auf die Einhaltung des Tag-Nacht-Rhythmus inklusive entsprechender Beleuchtung geachtet, die natürliche Sonne sehen die Tiere aber trotzdem nicht. Kunstlicht ist wohl zuverlässiger und besser dosierbar.

(1) Leider lässt sich den Angaben des Herstellers nicht entnehmen, auf welche Bezugsgröße (1 g, eine Einzelportion, o.ä.) sich die Angaben beziehen. Wir gehen bei unserer Berechnung davon aus, dass eine Einzelportion gemeint war.

(2) Das interdisziplinäre Redaktionsteam von „Gute Pillen- schlechte Pillen“ besteht aus Ärzten, Apothekern, Gesundheitswissenschaftlern anderen Naturwissenschaftler sowie Soziologen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Verbraucher verlässlich und industrieunabhängig über Entwicklungen auf dem Arzneimittelmarkt zu informieren.

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verfasst von am 26. Juli 2011 um 06:48

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