Wissenschaftlich nachgewiesen: Ernährungsweise ändert sich in Krisenzeiten
Autor/in: Dr. oec. troph. Christina Bächle,
Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit
Mittwoch, 26. Juni 2013
Negative Schlagzeilen verleiten Menschen dazu, mehr hochkalorische Nahrungsmittel zu essen. Über dieses Phänomen berichten aktuell Wissenschaftler der Universität von Miami. Sie haben interessante Erklärungen für ihre Beobachtungen.
Warum wählen Menschen ein bestimmtes Nahrungsmittel zum Verzehr aus? Der zugrundeliegende Entscheidungsprozess ist komplex und wird durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. Zu ihnen zählen die Einschätzung des Nährwerts, die subjektiv empfundene Attraktivität der Speise, persönliche Ziele sowie die Selbstkontrolle. Umweltfaktoren wie ökonomische Probleme, Konkurrenz am Arbeitsplatz, Konflikte um Ressourcen, Stress oder negative Schlagzeilen in den Nachrichten können das Entscheidungsverhalten verändern.
In den USA untersuchten Wissenschaftler, welche Auswirkungen das Verbreiten negativer Schlagzeilen auf die Nahrungsmittelauswahl hat. Während des ersten Experiments wurden 121 Probanden gebeten, zwei Sorten von Schokolinsen mit angeblich unterschiedlichem Energiegehalt geschmacklich zu bewerten. Dem Probierstand gegenüber waren entweder Poster mit neutralen oder negativen Schlagzeilen zu sehen. Die Probanden sollten so viele Schokolinsen verzehren, bis sie der Ansicht waren, die Süßigkeiten per Fragebogen beurteilen zu können. Allerdings wussten die Probanden nicht die ganze Wahrheit: In Wirklichkeit waren beide Schokolinsensorten identisch. Der Geschmackstest war lediglich ein Vorwand, um zu ermitteln, welchen Einfluss negative Nachrichten auf den Verzehr von Lebensmitteln mit unterschiedlichem Kaloriengehalt haben. Es zeigte sich, dass die Probanden, die die negativen Schlagzeilen im Blick hatten, deutlich mehr von den „hochkalorischen Schokolinsen“ verzehrten. Dies geschah, obwohl ihr eigenes Stressempfinden, ihr Hunger, ihre Stimmung oder Erregung sich nicht von der anderen Gruppe mit den neutralen Schlagzeilen unterschied. Auch als sie über das eigentliche Ziel des Experiments aufgeklärt wurden, waren sie davon überzeugt, dass die dargestellten ungünstigen Umweltbedingungen keine Auswirkungen auf die Menge der von ihnen verzehrten Schokolinsen gehabt hätten.
An dem nächsten Experiment nahmen nur Studenten teil. Unter dem Vorwand, ihre Aufmerksamkeit testen zu wollen, wurden sie gebeten, auf dem Computer einen Punkt anzuschauen, der wiederholt von einer Buchstabenkette unterbrochen wurde. Die Probanden sollten möglichst schnell per Tastendruck entscheiden, ob diese Buchstabenfolge ein sinnvolles Wort ergab oder nicht. Ähnlich wie im vorherigen Versuch wurden den Teilnehmern neutrale, positiv oder negativ behaftete Worte präsentiert. Nach vollendetem Test erhielt die Hälfte der Probanden einen Dollar „Ressource“ und alle Probanden wurden zu einem Snack eingeladen. Zur Auswahl standen Cupcakes oder Salat. Auch in diesem Fall war der Aufmerksamkeitstest lediglich das Mittel, um die Probanden mit verschiedenen Worten zu „impfen“. Wirklich interessant für die Wissenschaftler war dagegen die Auswahl der Speise im Anschluss an den Test. Sie stellten fest, dass Probanden, die zuvor neutrale oder positive Begriffe gelesen hatten, sich in etwa gleich häufig für Salat oder Cupcakes entschieden und zwar unabhängig davon, ob sie zuvor einen Dollar erhalten hatten. Anders gestaltete sich die Situation bei den Probanden mit den negativen Begriffen: Analog zum vorherigen Experiment entschieden sie sich häufiger für die kalorienreicheren Cupcakes. Dies geschah aber nur dann, wenn sie zuvor keine Bezahlung erhalten hatten. Die Forscher gehen davon aus, dass die Bereitstellung von Ressourcen (selbst wenn diese sehr gering sind) dazu führt, dass Menschen dem Drang, aus der Not heraus kalorienreiche Lebensmittel zu essen, besser widerstehen können.
Im letzten Experiment gingen die Wissenschaftler einen Schritt weiter und gaben dem Versuch eine Zeitdimension: Wie beeinflusst das langfristige Denken die eigene Konsumentscheidung? Diesmal wurden 144 Studenten gebeten, neutrale oder negative/problembehaftete Vorgänge nach ihrer Dauer zu sortieren. Innerhalb jeder Gruppe wurde jeweils die Hälfte der Probanden gebeten, die Vorgänge nach zunehmender oder abnehmender Dauer zu sortieren. Nachdem sie die Aufgabe gelöst hatten, konnten alle Probanden sich wahlweise mit einem Salat, einem Sandwich oder einem Cupcake stärken. Die Studenten mit den neutralen Vorgängen entschieden sich in etwa gleich häufig für die verschiedenen Optionen. Bei den problembehafteten Vorgängen fiel auf, dass diejenigen, die die negativen Vorgänge nach ihrer Kürze sortierten, stärker füllende Mahlzeiten bevorzugten, als die Studenten, die dieselben Vorgänge nach ihrer Länge ordneten. Die Wissenschaftler folgern, dass langfristiges Denken dazu beiträgt, dass Menschen sich für die gesünderen Nahrungsalternativen entscheiden.
Glaubt man diesen Studienergebnissen, so sind nicht nur Appetit oder der Wunsch nach Belohnung ausschlaggebend für die Auswahl und den Verzehr eines Lebensmittels. Schwierige Umweltbedingungen können dazu führen, dass unbewusst ungesunde Speisen bevorzugt werden. In der heutigen Zeit, in der solche Umweltfaktoren mehr die Regel als die Ausnahme sind und kalorienreiche Lebensmittel reichlich verfügbar sind, könnten diese Zusammenhänge mit an der Entstehung von Übergewicht und Fettleibigkeit beteiligt sein. Bislang lässt sich nur darüber spekulieren, welche inneren Prozesse Menschen dazu bewegen, sich bei negativen Umweltbedingungen kalorienreich zu verköstigen. Eine Theorie besagt, dass das Gehirn zur Bewältigung von Stress Glukose aus Körperdepots mobilisiert, die der Körper durch die Nahrungsaufnahme wieder füllen möchte. Denkbar ist auch, dass das Gehirn darauf programmiert ist, sich in Notzeiten für Fortpflanzung und den sofortigen Nutzen und damit für höherkalorische Lebensmittel zu entscheiden (sog. Life-History Theorie).
Quelle:
Juliano Laran, Anthony Salerno (2013): Life.History Strategy, Food Choice, and Caloric Consumption. Psychological Science 24(2): S. 167-173
verfasst von Dr. oec. troph. Christina Bächle am 26. Juni 2013 um 05:40
vorheriger Artikel: Babynahrung und „Diätprodukte“ neu geregelt
nächster Artikel: Diäten: Sicherer langsam zum Ziel
DEBInet-Ernährungsblog - über uns
Unsere Autoren schreiben für Sie über Aktuelles und Wissenswertes aus Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin. Die redaktionell aufbereiteten Texte richten sich nicht nur an Experten, sondern an alle, die sich für das Thema "Ernährung" interessieren.
Sie können sich die Beiträge per Newsletter zuschicken lassen oder diese über RSS-Feed oder Twitter abonnieren.
Für die Schriftenreihe der Gesellschaft für Rehabilitation bei Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten e.V. (GRVS) wurden 222 unserer Blog-Artikel ausgewählt. Das dabei entstandene Ernährungs-Lesebuch ist 2017 im Pabst Science Publishers Verlag erschienen und steht Ihnen hier kostenlos zum Download zur Verfügung
© 2010-2024 Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit