Geheimnis Reizdarm: auf der Suche nach physiologischen Ursachen

Autor/in: , Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit

Donnerstag, 25. März 2021

Wissenschaftlern der Katholischen Universität (KU) Leuven ist es gelungen, mögliche Mechanismen, die dem Reizdarmsyndrom zugrunde liegen, aufzuklären. Ihre Erkenntnisse könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass das Reizdarmsyndrom als körperliche Störung verstanden wird und neue Therapieoptionen entstehen.

Menschen mit einem Reizdarmsyndrom haben es häufig schwer: Da es für ihre Bauchbeschwerden keine objektiv belegbare Ursache gibt, werden schnell psychische Gründe vermutet. Manchen Menschen mit Reizdarmsymptome hilft es, wenn sie sich glutenfrei ernähren oder bestimmte Lebensmittel meiden. Warum dies allerdings funktioniert, war bislang ein Rätsel, denn Reizdarmpatienten haben weder eine Lebensmittelallergie noch Unverträglichkeiten noch eine Zöliakie.

„Sehr oft werden diese Patienten von Ärzten nicht ernst genommen, und das Fehlen einer allergischen Reaktion wird als Argument verwendet, dass dies alles im Kopf geschieht und dass sie kein Problem mit ihrer Darmphysiologie haben“, erläutert Professor Guy Boeckxstaens, Gastroenterologe an der KU Leuven. Gemeinsam mit seinen Kollegen hat Boeckxstaens intensiv daran gearbeitet, das Mysterium Reizdarm besser zu verstehen.

In einem gesunden Darm reagiert das Immunsystem nicht auf Lebensmittel. Was ist bei Menschen mit einem Reizdarmsyndrom anders? Viele Betroffene berichten, dass ihre Beschwerden nach einer Infektion des Magen-Darm-Trakts begonnen haben. Dies brachte die Forscher auf eine Idee. Könnte eine Infektion im Darm zu einer Sensibilisierung für ein bestimmtes Lebensmittel führen, wenn dieses zur selben Zeit präsent ist? Ihr Vermutung konnten sie in einem Experiment mit Mäusen bestätigen. Nach einer Infektion mit einem Magen-Darm-Virus in Anwesenheit des Eiweißbestandteils Ovalbumin führte eine erneute Ovalbumingabe zu einer Aktivierung des Immunsystems. Mastzellen schütteten Histamin aus, was zu Verdauungsbeschwerden und Bauchschmerzen führte. Mäuse aus der Kontrollgruppe ohne Magen-Darm-Infektion zeigten dagegen keine Beschwerden nach der Ovalbumingabe.

Den Wissenschaftlern gelang es, die Abfolge der Ereignisse in der Immunantwort zu entschlüsseln, die die Aufnahme von Ovalbumin mit der Aktivierung der Mastzellen verband. Bezeichnenderweise traten diese Immunreaktion und die darauffolgende überschießende Histaminfreisetzung nur in dem Bereich des Darms auf, der von der zuvor stattgefundenen Infektion betroffen war. Dies würde den Unterschied zu einer Nahrungsmittelallergie erklären, bei der IgE-Antikörper im Blut zirkulieren. „Mit diesen neuen Erkenntnissen liefern wir weitere Beweise dafür, dass wir es mit einer echten Krankheit zu tun haben“, betont Boeckxstaens. Die neu gewonnenen Erkenntnisse weisen laut Boeckxstaens auf ein Spektrum von lebensmittelbedingten Immunkrankheiten hin. „Am einen Ende des Spektrums ist die Immunreaktion auf ein Nahrungsmittelantigen sehr lokal, wie beim Reizdarmsyndrom. Am anderen Ende des Spektrums befindet sich die Nahrungsmittelallergie, die einen generalisierten Zustand mit schwerer Mastzellenaktivierung umfasst, mit Auswirkungen auf Atmung, Blutdruck und so weiter.“

Im nächsten Schritt wandten sich die Forscher wieder dem Menschen zu. Sie injizierten Nahrungsmittelantigene, die häufig Beschwerden bei Menschen mit einem Reizdarmsyndrom auslösen (Gluten, Weizen, Soja und Kuhmilch), direkt in die Darmwand von Patienten mit Reizdarmsyndrom und gesunden Kontrollpersonen. Im Gegensatz zu den Kontrollpersonen reagierten alle Reizdarm-Patienten mit einer lokalen Immunantwort, die mit jener der Mäuse vergleichbar war. Auch wenn diese Studie mit insgesamt 20 Probanden sehr klein war, passen die gefundenen Ergebnisse sehr gut zu den Ergebnissen einer anderen Studie, in der Patienten mit Reizdarmsyndrom von einer Behandlung mit Antihistaminika profitiert hatten. Eine größere klinische Studie über den Nutzen der Antihistamin-Behandlung bei Menschen mit einem Reizdarmsyndrom ist derzeit im Gange. „Aber die Kenntnis des Mechanismus, der zur Mastzellenaktivierung führt, ist entscheidend und wird zu neuen Therapien für diese Patienten führen„, ist Boeckxstaens sich sicher. „Mastzellen setzen viel mehr Verbindungen und Mediatoren als nur Histamin frei, wenn man also die Aktivierung dieser Zellen blockieren kann, glaube ich, dass man eine viel effizientere Therapie haben wird.“

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verfasst von am 25. März 2021 um 11:35

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