Körpergewicht – elterliches Fehlurteil
Autor/in: Dr. oec. troph. Christina Bächle,
Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit
Mittwoch, 4. April 2012
Eltern betrachten Sprösslinge oft durch rosarote Brille
Viele Eltern sind davon überzeugt, ihre Kinder am besten zu kennen. Wenn es jedoch um die Beurteilung des Körpergewichts ihrer Kinder geht, liegen sie häufig falsch, wie eine aktuelle Studie zeigt. Dies gilt insbesondere für Mütter mit Übergewicht und Migrationshintergrund.

Eltern bestimmen weitgehend über verfügbare Lebensmittel, deren Zubereitung und die Mahlzeitengestaltung sowie sportliche Aktivitäten, Alltagsaktivitäten und Medienkonsum. Damit beeinflussen sie maßgeblich das Ausmaß des Körpergewichts ihrer Kinder – zumindest in jungen Jahren. Doch wie beurteilen die Eltern das daraus resultierende Körpergewicht ihrer Kinder? Dieser Frage gingen Wissenschaftler in einer baden-württembergischen Studie nach.
Studiendesign
In dieser Studie wurden 159 Eltern-Kind-Paare untersucht. Die Kinder waren im Grundschulalter (6-10 Jahre), das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen war in etwa ausgeglichen (87 Mädchen, 72 Jungen). Die Eltern machten Angaben zu ihren soziodemografischen Daten (Schulabschluss, Migrationshintergrund), ihrer Körpergröße und ihrem Körpergewicht. Außerdem wurden die Eltern gebeten, das Körpergewicht ihrer Kinder auf einer fünfstufigen Skala einzuschätzen (Antwortkategorien: „viel zu dünn“, „etwas zu dünn“, „genau richtig“, „etwas zu dick“, „viel zu dick“). Im Anschluss an die schriftliche Befragung der Eltern wurden Körpergewicht und Körpergröße der Kinder mit einem standardisierten Verfahren gemessen. Der daraus berechnete BMI der Kinder wurde in die Kategorien „starkes Untergewicht“, „Untergewicht“, „Normalgewicht“, „Übergewicht“ und „starkes Übergewicht“ eingeteilt und mit den Einschätzungen der Eltern verglichen.
Ergebnis
Es zeigte sich, dass die Übereinstimmung zwischen der objektiven Messung und dem Urteil der Eltern bei den Kindern mit einem BMI im Normalbereich am höchsten war: 83 Prozent der Eltern von normalgewichtigen Kindern stuften diese auch als solche ein. Dagegen dachten drei Prozent der Eltern, ihre eigentlich normalgewichtigen Kinder seien zu dick, während fast 14 Prozent der Eltern, also beinahe jedes sechste Elternpaar, ihre Kinder in der Gruppe der etwas oder viel zu dünnen Kinder sahen. In der Gruppe der Kinder mit Übergewicht schätzten weniger als zwei Drittel der Eltern (58 Prozent) ihre Kinder korrekt ein, die restlichen Eltern schienen davon überzeugt zu sein, ihr Kind sei „genau richtig“ in seinem Gewicht. Am schlechtesten war die Übereinstimmung zwischen objektivem und subjektivem Ergebnis bei den Kindern mit Untergewicht: Hier lagen lediglich 43 Prozent der Eltern, also weniger als jedes zweite Elternpaar, richtig, die Mehrheit (57 Prozent) ging hingegen davon aus, dass das Gewicht ihrer Kinder im Normalbereich lag.
Interessant an dieser Studie waren insbesondere die Ergebnisse der Subgruppenanalyse (s. Tabelle). Eine Differenzierung der Eltern nach BMI, Sozialstatus (gemessen am Schulabschluss der Eltern) sowie Migrationshintergrund zeigte, dass Mütter mit einem hohen BMI Schwierigkeiten haben, das Gewicht ihrer Kinder richtig einzuschätzen. Sie neigen sowohl zur Über-, als auch zur Unterschätzung des Gewichts ihrer Kinder. Im Fall einer Unterschätzung bedeutet dies, dass Übergewicht bei Kindern aus Familien, in denen die Mutter ebenfalls Übergewicht hat, seltener als solches erkannt wird. Eine Überschätzung des Körpergewichts der Kinder ist v.a. bei untergewichtigen Kindern problematisch. Interessanterweise neigen übergewichtige Väter lediglich zu einer Unterschätzung des Körpergewichts ihrer Kinder verglichen mit Vätern mit einem Gewicht im Normalbereich. Der Unterschied zwischen normal- und übergewichtigen Vätern war insgesamt weniger ausgeprägt als bei den Müttern und statistisch nicht signifikant.
Elterneinschätzung des Körpergewichts ihrer Kinder (Angaben in Prozent) | |||
---|---|---|---|
Richtig | Unterschätzung | Überschätzung | |
BMI der Mutter normal > 25 kg/m2 |
82 % 68 % |
15 % 19 % |
3 % 13 % |
BMI des Vaters normal > 25 kg/m2 |
78 % 78 % |
13 % 14 % |
9 % 8 % |
Migrationshintergrund ja nein |
80 % 66 % |
12 % 29 % |
8 % 6 % |
Eltern von Kindern mit einem Migrationshintergrund (dies bedeutet, dass beide Elternteile im Ausland geboren sind) unterschätzten das Gewicht ihrer Kinder vergleichsweise häufiger als in Deutschland geborene Eltern. Der sozioökonomische Status der Eltern hatte indes keinen Einfluss auf die Einschätzung.
Mögliche Ursachen
Über die Ursachen, die zu dem verzerrten Urteil der Eltern führen, können die Wissenschaftler nur spekulieren. Sie vermuten, dass die Vorstellungen, die die Eltern über ein normales, zu niedriges oder zu hohes Körpergewicht haben, nicht mit den Maßstäben der Wissenschaft übereinstimmen. Das Nichterkennen von Untergewicht (Überschätzung) könnte auch damit zu tun haben, dass in westlichen Industrienationen vor allem Übergewicht und Adipositas als Gesundheitsprobleme thematisiert werden. Ein (zu) geringes Gewicht hingegen wird immer noch als Zeichen von Status, Disziplin und Gesundheit und damit als sozial erwünscht angesehen. Möglicherweise sind Eltern eher bereit, Untergewicht bei ihren Kindern zu tolerieren oder begrüßen es sogar, so die Forscher. Denkbar ist auch, dass die Eltern das Fehlgewicht ihrer Kinder zwar erkennen, dieses aber (bewusst oder unbewusst) nicht angeben, weil sie sich hierfür mitverantwortlich fühlen.
Die Fehleinschätzung bei Kindern mit Migrationshintergrund beruht vielleicht darauf, dass diese Eltern weniger über das Thema Übergewicht informiert werden oder ein anderes kulturelles Verständnis dafür haben. In manchen Ländern gilt Übergewicht als Zeichen für Wohlstand und wird mit einem höheren Gesundheitswert in Verbindung gebracht.
Fazit
Aufgrund der häufigen Fehleinschätzungen bei der Beurteilung des Körpergewichts ihrer Kinder wird dazu geraten, Eltern verstärkt für das Gewicht ihrer Kinder zu sensibilisieren. Dies könnte beispielsweise im Rahmen der Kindervorsorgeuntersuchungen geschehen.
Quelle:
P. Lührmann, A. Schwerter, B. Dohnke, L. Bruxmeier (2012): Kindliches Körpergewicht in der elterlichen Wahrnehmung. Eine empirische Studie. Ernährung im Fokus 2012: 78-81.
verfasst von Dr. oec. troph. Christina Bächle am 4. April 2012 um 07:18
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Meiner Ansicht nach ist die Studie eher explorativ zu verstehen. Für Subgruppenanalysen bei Familien mit Migrationshintergrund ist der Stichprobenumfang mit 159 Eltern-Kind-Paaren zu gering. Die Ergebnisse dieser Studie sollten aber auf jeden Fall Ausgangspunkt für weitere Studien sein. Wichtig ist jedoch nicht nur die Ursachenforschung (hier besitzen Querschnittsstudien wie diese auch nur eine begrenzte Aussagekraft), sondern in erster Linie die Überlegung, wie den Familien geholfen werden kann.
Die Untersuchung hinsichtlich der Einschätzung von Eltern mit Migrationshintergrund fand ich doch recht überraschend. Wenn man dann auf die Ergebnisse kaum nachvollziehbare Schlussfolgerungen ableiten kann, dann dürfte dies in erster Linie daran liegen, dass die Grundgesamtheit von „Eltern mit Migrationshintergrund“ viel zu heterogen ist. Das sieht man gerade bei der der schlussendlichen Vermutung, dass Eltern mit Migrationshintergrund weniger über das Thema Übergewicht informiert sind oder einen anderen kulturellen Backround haben. Das sind tatsächlich nur sehr vage Aussagen, welche keinerlei Tatsachen wiederspiegeln können. Ein Ansatz könnte vielleicht sein die Eltern mit Migrationshintergrund in kulturelle Cluster einzuteilen. Oder nach wirtschaftlichen Klassifizierungen der Heimatländer einzuteilen (Beispiel: Entwicklungsland, Schwellenland, Industriestaat).