Neun Schritte hin zu einer nachhaltigeren Ernährung(spolitik)
Autor/in: Dr. oec. troph. Christina Bächle,
Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit
Dienstag, 17. November 2020
Wie kann die Politik dazu beitragen, dass sich Menschen in Deutschland nachhaltiger ernähren? Mögliche Ansatzpunkte werden in einem Gutachten des unabhängigen Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft dargelegt.
© DEBInet
Die Zeiten, in denen die Ernährung primär der Sättigung, Erhaltung der Gesundheit und Steigerung des eigenen Wohlbefindens diente, sind vorbei. Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, hat soziale, umwelt-, klima- und tierschutzbezogene Folgen, die in letzter Zeit vermehrt diskutiert werden. Angesichts der begrenzten ökologischen Ressourcen sind sich Ernährungsexperten weitgehend einig, dass die Ernährung der Zukunft nachhaltiger gestaltet werden muss – und kann. Im August hat der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft eine umfassende Analyse des Ernährungssystems in Deutschland und seiner politischen Steuerung veröffentlicht. Das interdisziplinär besetzte Gremium hat darin auch Empfehlungen eine Politik zugunsten einer nachhaltigeren Ernährung in Deutschland abgeleitet:
- Systemwechsel in der Kita- und Schulverpflegung herbeiführen – „Kinder und Jugendliche in den Fokus“: Vielerorts ist die Verpflegungssituation in Kita und Schule geprägt durch eine schlechte Qualität des Speisenangebots und eine wenig attraktive Essumgebung. Um das Potenzial dieser Einrichtungen als Orte des Lernens und der sozialen Integration im Sinne einer nachhaltigeren Ernährung zu nutzen, bedarf es, so der WBAE, klarer staatlicher Steuerungsimpulse. Vorgeschlagen werden unter anderem die schrittweise und evidenzbasierte Einführung einer beitragsfreien Kita- und Schulverpflegung sowie ein Investitionsprogramm für den qualitativen und quantitativen Ausbau der Kita- und Schulverpflegung.
- Konsum tierischer Produkte global verträglich gestalten – „Weniger und besser“: Im Sinne einer global verträglichen Ernährung ist es zwingend erforderlich, den hohen Konsum tierischer Produkte in wohlhabenderen Ländern wie Deutschland zu reduzieren. Abgesehen von positiven Gesundheitseffekten für den einzelnen bietet die Reduktion des Konsums tierischer Lebensmittel auch die Chance, die Nutztierhaltung umzugestalten und einen Beitrag zu mehr Tierwohl, Biodiversität und Klimaschutz zu leisten. Die Veränderung der Nachfrage nach tierischen Produkten könnte durch eine Abschaffung des niedrigeren Mehrwertsteuersatzes für tierische Erzeugnisse, die Einführung eines Klimalabels sowie gezielte Informationskampagnen unterstützt werden, so der WBAE.
- Preisanreize nutzen – „Die Preise sollen die Wahrheit sagen“: Um Konsummuster nachhaltiger zu gestalten, empfiehlt der WBAE auch in anderen Bereichen Preisanreize für eine nachhaltigere Ernährung deutlich zu verstärken. Neben der Veränderung des Mehrwertsteuersatzes für tierische Produkte werden eine neue Verbrauchssteuer für alle zuckerhaltigen Getränke und die Einführung einer spezifischen Nachhaltigkeitssteuer auf alle Lebensmittel angesprochen. Die hierdurch eingenommenen Mittel sollen Bund und Länder für Investitionen in eine nachhaltigere Ernährung nutzen. Zugleich sollen einkommensschwache Haushalte entlastet und die Mehrwertsteuersätze für Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte reduziert werden.
- Eine gesundheitsfördernde Ernährung für alle ermöglichen – „Ernährungsarmut verringern“: Auch wenn Deutschland zu den wohlhabenden Ländern zählt, gibt es hierzulande Menschen, die an armutsbedingter Fehl- und Mangelernährung und sogar Hunger leiden. Im Sinne eine Politik für eine nachhaltigere Ernährung sollten die Situation dieser einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen verstärkt in den Blick genommen und gezielte Unterstützungsangebote weiterentwickelt werden. Zu den Empfehlungen des WBAE zählen die Berücksichtigung der Kosten für eine gesundheitsfördernde Ernährung in der Kalkulation staatlicher Grundsicherungsleistungen sowie die Überprüfung und Abfederung der Auswirkungen ernährungspolitischer Maßnahmen auf einkommensschwache Haushalte.
- Verlässliche Informationen bereitstellen – „Wahlmöglichkeiten schaffen“: Laut WBAE fehlen aktuell weitgehend verlässliche Informationen über wesentliche Nachhaltigkeitseigenschaften der Ernährung. Gerade diese Informationen seien aber unabdingbar für einen nachhaltigeren Konsum. Empfohlen wird ein deutlicher Ausbau der Informationsinfrastruktur durch wirksame Label (darunter der Nutri-Score), strengere Vorgaben für Werbung und die Schaffung eines „digitalen Ecosystem nachhaltigere Ernährung“ mit Apps und digitalen Anwendungen.
- Nachhaltigere Ernährung als das „New Normal“ – „Soziale Normen kalibrieren“: Was wir als normal und angemessen empfinden (soziale Norm), wird durch das verfügbare Angebot und beispielsweise Portionsgrößen „kalibriert“. Soziale Normen wiederum üben einen entscheidenden Einfluss auf unser Konsumverhalten aus. In den Augen des WBAE ist es daher erforderlich, für eine nachhaltigere Umgestaltung der Ernährungsumgebung die Exposition und den Zugang stärker zu fokussieren. Durch eine stärkere Exposition gegenüber und einen verbesserten Zugang zu nachhaltigeren Produkten sollen diese zu einer neuen sozialen Norm („new normal“) werden.
- Angebote in öffentlichen Einrichtungen verbessern – „Großküchen nachhaltiger gestalten“: Obwohl die Ernährung einen großen Einfluss auf die Gesundheit hat, wird sie derzeit im Gesundheitssystem eher als Nebenthema gesehen. In der Senioren-, Krankenhaus- und Rehaverpflegung standen bislang versorgungspraktische Erwägungen im Vordergrund. Hier rät der WBAE zu einer Umorientierung in Richtung hochwertiger Qualität des Essens und der Ernährungsumgebung, beispielsweise durch die verbindliche Einführung von Qualitätsstandards für die Verpflegung in Krankenhäusern und Reha-Kliniken.
- Landbausysteme weiterentwickeln und kennzeichnen – „Öko und mehr“: Das Expertengremium schlägt eine weitere Förderung des ökologischen Landbaus vor, weist zugleich aber auch darauf hin, dass eine Komplettumstellung der Landwirtschaft nicht das Ziel einer nachhaltigeren Politik sein sollte. Innovationsimpulse vom Ökolandbau könnten auf die gesamte Landwirtschaft übergehen, dadurch könnten nachhaltigere Landbausysteme mit höherer Flächennutzungseffizienz als derzeit im Ökolandbau entstehen, so die Vision des WBAE.
- Politikfeld „Nachhaltigere Ernährung“ aufwerten und institutionell weiterentwickeln – „Eine integrierte Ernährungspolitik etablieren“: Das Politikfeld der nachhaltigeren Gestaltung der Ernährung ist noch jung und stark von Interessen geprägt. Um hier Handlungsfähigkeit zu erreichen, empfiehlt der WBAE eine umfassende Neuausrichtung und Stärkung der Ernährungspolitik. Zu den Aufgaben der Politik zählen in diesem Zusammenhang laut WBAE die Gestaltung und Verbesserung der Ernährungsumgebung, die Regulation durch einen breiten und abgestimmten Instrumentenmix, bei dem nachfrage- und angebotsseitige Instrumente verknüpft werden sowie eine klare Zielgruppenorientierung, bei der die Bedürfnisse vulnerabler Gruppen stärker berücksichtigt werden. Die Ernährungspolitik sollte an den vier Nachhaltigkeitsdimensionen Gesundheit, Soziales, Umwelt und Tierwohl ausgerichtet werden.
Die Vorschläge des Beirats sind umfassend und weitreichend. Es wird spannend, was sich davon im politischen Alltag umsetzen lässt…
Quellen einblenden
- Achim Spiller, Britta Renner, Lieske Voget-Kleschin, Ulrike Arens-Azevedo, Alfons Balmann, Hans Konrad Biesalski, Regina Birner, Wolfgang Bokelmann, Olaf Christen, Matthias Gauly, Harald Grethe, Uwe Latacz-Lohmann, José Martínez, Hiltrud Nieberg, Monika Pischetsrieder, Matin Qaim, Julia C. Schmid, Friedhelm Taube, Peter Weingarten (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung: Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten. Berichte über Landwirtschaft, Sonderheft 230
verfasst von Dr. oec. troph. Christina Bächle am 17. November 2020 um 07:03
vorheriger Artikel: Wie Backwaren für Reizdarmpatienten bekömmlicher werden
nächster Artikel: „Startklar für die Küche“ mit Hygiene-Rap
DEBInet-Ernährungsblog - über uns
Unsere Autoren schreiben für Sie über Aktuelles und Wissenswertes aus Ernährungswissenschaft und Ernährungsmedizin. Die redaktionell aufbereiteten Texte richten sich nicht nur an Experten, sondern an alle, die sich für das Thema "Ernährung" interessieren.
Sie können sich die Beiträge per Newsletter zuschicken lassen oder diese über RSS-Feed oder Twitter abonnieren.
Für die Schriftenreihe der Gesellschaft für Rehabilitation bei Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten e.V. (GRVS) wurden 222 unserer Blog-Artikel ausgewählt. Das dabei entstandene Ernährungs-Lesebuch ist 2017 im Pabst Science Publishers Verlag erschienen und steht Ihnen hier kostenlos zum Download zur Verfügung
© 2010-2024 Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit