Stress macht manche dick
Autor/in: Sabrina Rauth,
Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit
Montag, 4. Juni 2012
Dicksein als Anpasssung
Dicke Menschen überleben in belastenden Situationen eher, und das, obwohl ein hoher BMI mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden ist. Als „Gewichtsparadox“ bezeichnen Forscher diesen Widerspruch. Aber vielleicht ist ein hoher BMI gar keine Ursache, sondern nur eine Folge eines anderen, ursächlichen Faktors für die Sterblichkeit, eventuell sogar eine Maßnahme des Körpers gegen diesen? Der Adipositas-Forscher Achim Peters hat dazu eine Theorie entwickelt. Der Wissenschaftler sieht in einer Gewichtszunahme eine notwendige Anpassung, hinter der das Gehirn als eigentlicher Drahtzieher steckt…
Das selbstsüchtige Gehirn
Das Gehirn ist das Organ mit dem höchsten Energieverbrauch. Um sicherzustellen, dass es ausreichend versorgt ist, bekommt das Gehirn die von ihm benötigte Energie noch vor allen anderen Organen. Die Energie-Bereitstellung ist so eng geregelt, dass das Gehirn als einziges Organ bei länger andauerndem Nahrungsentzug nicht abnimmt. Die benötigte Energie – über 130 g Glukose – fordert es aktiv aus dem Blut an. Das ist sind rund 60 Prozent des im Blut zirkulierenden Zuckers. Nun wird diese Quelle aber auch vom Muskel- und Fettgewebe angezapft. Eine wirkliche Konkurrenz sind die Gewebe aber nicht. Das Gehirn kann der Bauchspeicheldrüse über die Nerven mitteilen, dass sie kein Insulin mehr produzieren soll. Und dadurch übertrumpft es seine Rivalen. Denn ohne Insulin können Muskel- und Fettgewebe aus dem Blut keine Glukose mehr aufnehmen.
Reaktion auf Stress – zwei Typen
In der Regel versorgt sich das Gehirn vor allem aus den Körperspeichern. Benötigt es Energie, kommt das Stresssystem in Gang und übt einen „Zug“ aus (von Peters als „Brain-Pull“ bezeichnet), der dem Gehirn letztendlich die gewünschte Energie liefert. Übermäßiger Stress, der in Dauerstress ausartet, löst bei den stark gestressten Personen verschiedene Antworten aus. Unterschieden wird zwischen einem Typ A und einem Typ B, je nachdem, ob die Stressantwort hoch- oder niedrig-reaktiv ausfällt.
Typ B
Beim niedrig-reaktivem Typ B sinkt die Reaktivität des Stresssystems. Dadurch erlahme aber auch der Brain-Pull des Gehirns und es könne schlechter auf die Körperspeicher zugreifen, meint Peters. Damit das Gehirn dennoch ausreichend versorgt werde, hole es sich seine Energie aus der Nahrung. Mit der Folge, dass Menschen vom Typ B an Gewicht zulegen würden, sobald ihr Stresssystem heruntergefahren werde. Vermittelt werde diese Anpassung durch Endocannabinoide, körpereigene Botenstoffe.
Typ A
Menschen vom Typ A hingegen nähmen auch bei Dauerstress nicht zu, da ihr Stresssystem immer auf Hochtouren arbeite. Ihr Brain-Pull funktioniere auch unter diesen Bedingungen einwandfrei. Allerdings erführen sie eher die Folgen des Dauerstress, für die Typ-B-Menschen aufgrund der Anpassung ihres Stresssystems weniger anfällig seien, sagt Peters. Diese bestünden in stressvermittelten Störungen wie Depressionen, Muskel- und Knochenabbau, einer beeinträchtigten Gedächtnisleistung und eben auch einer erhöhten Sterblichkeit.
Gemäß der Theorie von Peters wäre Dicksein demnach, abgesehen von wenigen Ausnahmen, bei denen eine unwiderbringliche Schädigung des Brain-Pull-Systems vorläge, eine zumeist wirksame Anpassung an Stress-Belastungen.
Neben dem Gewichts- auch ein Willensparadox
Bei stark Übergewichtigen findet sich häufig ein Willensparadox. Gerade Menschen mit höherem Körpergewicht kontrollieren kognitiv stärker, was sie essen. Diese gezügelten Esser nehmen in der Folge aber trotz des vorhandenen Willens nicht ab, sondern im Gegenteil eher noch zu. Peters sieht eine mögliche Erklärung dafür in einem niedrig-reaktiven Stresssystem, das das Gehirn durch mögliche Engpässe bedrohe. Das unterversorgte Gehirn fordere dann verstärkt, was ihm zustehe.
Den Teufelskreis durchbrechen
Peters schlussfolgert daraus, dass eine Nahrungseinschränkung für Übergewichtige verfehlt wäre. Diese Maßnahme aktiviere und belaste das Stresssystem nur zusätzlich. Besser sei es dagegen, Stress zu verringern. Dazu könnte eine veränderte Wahrnehmung von Menschen mit hohem Körpergewicht durch ihr Umfeld beitragen. Denn eine Diskriminierung von Übergewichtigen sei auch deshalb problematisch, weil sie diese erhöhtem psychosozialen Stress aussetze. Und Stress treibe den Verbrauch des Gehirns weiter an, wodurch ein Abnehmen noch weniger gelingen könne.
Ein guter Ansatz neben Ruhe sei auch körperliches Training, das bei Untrainierten die Reaktivität des Brain-Pull-Systems verstärken könne. Alkohol dagegen solle eher mäßig konsumiert werden, da er den Brain-Pull hemme. Auch Süßstoffe seien eher ungeeignet. Sie täuschten das Gehirn, das Energie erwarte, aber keine bekomme und darauf Hunger signalisiere. Dadurch werde schlussendlich mehr Nahrung aufgenommen. Außerdem könne ausreichend Schlaf nutzen, da während dieser Phase das Stresssystem neu organisiert werde.
Quelle:
Peters A: Das egoistische Gehirn – Wie die menschliche Gewichtsvielfalt entsteht. Ernährungsumschau 2012;4:210-217
verfasst von Sabrina Rauth am 4. Juni 2012 um 07:00
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