Wenn Milchzucker Leben rettet
Autor/in: Dr. oec. troph. Christina Bächle,
Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit
Donnerstag, 20. März 2014
Stellen Sie sich einmal folgende Situation vor: Ein Schüler hastet zur Bushaltestelle. In letzter Sekunde steigt er nach Atem ringend in den Bus ein – und bricht dort plötzlich zusammen. Nach der Wiederbelebung bleiben Schäden zurück. Was ist passiert?
Der junge Mann aus dem Beispiel hatte einen PMG1-Mangel. Das Enzym Phosphoglucomutase 1 (kurz: PMG1) kommt in jeder Zelle vor und ist für die Speicherung von Energie aus Glukose zuständig. Braucht der Körper rasch Energie, sorgt PMG1 für die Bereitstellung, indem Glykogenreserven (die Speicherform von Glukose) abgebaut werden. Das Fehlen dieses Enzyms kann schwerwiegende Folgen haben, so Professor Thorsten Marquardt, Leiter des Bereichs für angeborene Stoffwechselerkrankungen an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Münster. „Bei PMG1-Mangel kann es beispielsweise zu Muskelschmerzen und Muskelzerfall, rotem Urin nach dem Sport, Lebererkrankungen, einem gefährlich niedrigen Blutzuckerwert und sogar schweren Herzmuskelerkrankungen kommen.“
Trotz der teilweise dramatischen Auswirkungen des Enzymmangels werden die Symptome selten mit der Erkrankung in Verbindung gebracht, denn diese glücklicherweise sehr seltene Stoffwechselerkrankung ist bislang kaum bekannt. Unbekannt ist auch die genaue Anzahl der Menschen, die davon betroffen sind. Dabei gibt es einen einfach zu erkennenden Hinweis für ein erhöhtes Erkrankungsrisiko, der sich leicht in die Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern integrieren ließe. Marquardt berichtet: „Hinten am Gaumen hat jeder Mensch ein Zäpfchen. Bei Menschen mit PGM1-Mangel ist dieses gespalten und sieht dann wie zwei Zäpfchen aus.“ Nicht jedes gespaltene Zäpfchen, das in der Fachsprache uvula bifida heißt, geht mit einem PMG1-Mangel einher. Daher empfiehlt Marquardts niederländischer Kollege Dirk Lefeber von der Radboud-Universität Nimwegen die Absicherung der Diagnose durch einen eigens entwickelten Biomarker im Rahmen eines Bluttests.
Ist die Diagnose eines PMG1-Mangels gesichert, lässt sich die Erkrankung mit erstaunlich unkomplizierten Maßnahmen therapieren. Durch klinische Tests konnte die Forschergruppe um Marquardt und Lefeber zeigen, dass sich der Enzymmangel durch die Gabe von Galactose, einem Bestandteil von Milchzucker (Lactose) nahezu ausgeglichen werden kann. Mithilfe von komplexen Kohlenhydraten lässt sich der Blutzuckerspiegel stabilisieren, sodass akute Stoffwechselkomplikationen vermieden werden können. Die Wissenschaftler empfehlen außerdem bei PMG1-Mangel auf sehr anstrengende körperliche Aktivitäten zu verzichten.
Am Universitätsklinikum in Münster werden erste Patienten nach diesem Therapieschema behandelt. Marquardt, Lefeber und ihre Kollegen aus Münster und Nimwegen hoffen nun, dass sich das Wissen um die gefährliche und doch vergleichsweise einfach zu behandelnde Stoffwechselerkrankung rasch unter ihren Berufskollegen verbreitet.
Quellen einblenden
- Westfälische Wilhelms-Universität Münster (2014): Milchzucker kann Leben retten: Forscherteam entschlüsselt gefährliche Stoffwechselkrankheit. Pressemitteilung vom 07.01.2014
- L.C. Tegtmeyer, S. Rust, M. van Scherpenzeel, B.G. Ng, M.-E. Losfeld, S. Timal, K. Raymond, P. He, M. Ichikawa, J. Veltman, K. Huijben, Y.S. Shin, V. Sharma, M. Adamowicz, M. Lammens, J. Reunert, A. Witten, E. Schrapers, G. Matthijs, J. Jaeken, D. Rymen, T. Stojkovic, P. Laforêt, F. Petit, O. Aumaître, E. Czarnowska, M. Piraud, T. Podskarbi, C.A. Stanley, R. Matalon, P. Burda, S. Seyyedi, V. Debus, P. Socha, J. Sykut-Cegielska, F. van Spronsen, L. de Meirleir, P. Vajro, T. DeClue, C. Ficicioglu, Y. Wada, R.A. Wevers, D. Vanderschaeghe, N. Callewaert, R. Fingerhut, E. van Schaftingen, H.H. Freeze, E. Morava, D.J. Lefeber, T. Marquardt (2014): Multiple Phenotypes in Phosphoglucomutase 1 Deficiency. The New England Journal of Medicine 370: Seite 533-542.
verfasst von Dr. oec. troph. Christina Bächle am 20. März 2014 um 10:35
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