Auf Wiedersehen Adipositas-Paradoxon?
Autor/in: Dr. oec. troph. Christina Bächle,
Redaktion: Dr. Bertil Kluthe
© Kluthe-Stiftung Ernährung und Gesundheit
Dienstag, 3. April 2018
Von wegen: Patienten mit Adipositas (Fettleibigkeit) Grad 1 haben bei schweren Erkrankungen wohl doch keine höhere Überlebenschance als entsprechende Patienten mit Normalgewicht. Für den bisher (fälschlicherweise) angenommenen Zusammenhang bestehen mehrere Erklärungsansätze.
Bisher wurde vielfach davon ausgegangen, dass eine niedriggradige Adipositas (Grad I) mit BMI-Werten zwischen 30 und 35 kg/m2 mit einer geringeren Gesamtsterblichkeit assoziiert ist und die Prognose bei schweren Erkrankungen verbessert.
Doch ist dies tatsächlich der Fall? In ihrer aktuellen Publikationen berichten die außerordentliche Professorin Virginia W. Chang von der Universität New York und ihre Kollegen über die Ergebnisse ihrer Studie zur Überprüfung der Gültigkeit des sogenannten Adipositas-Paradoxons. Die Datengrundlage hierfür bildeten die Daten der seit 1992 fortlaufenden, für die USA repräsentativen Gesundheits- und Ruhestandsstudie (Health and Retirement Study), in der unter anderem das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall, kongestive Herzinsuffizienz, ischämische Herzkrankheit) dokumentiert wurde.
Zunächst untersuchten die Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen dem Auftreten der verschiedenen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dem aktuellen Körpergewicht der Probanden. Dabei stellten sie fest, dass – ebenso wie in früheren Studien – das Risiko zu versterben unter den Probanden mit Adipositas Grad 1 je nach Krankheitsart um 18 bis 36 Prozent geringer war als unter den normalgewichtigen Probanden.
Das aktuell gewählte Modell hatte allerdings einige Schwächen. Da Gewicht und Krankheitszustand sich auf denselben Zeitpunkt beziehen, kann daraus lediglich auf eine Assoziation zwischen beiden Faktoren geschlossen werden, eine Kausalität im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Beziehung (hier: ein höherer BMI reduziert die Sterblichkeit) lässt sich dagegen nicht ableiten. Hinzu kommt, dass viele Menschen im Verlauf einer schweren Krankheit an Gewicht abnehmen. Wenn ursprünglich adipöse Menschen mit zunehmendem Krankheitsstadium normalgewichtig werden und später sterben, kann der fälschliche Eindruck entstehen, dass normalgewichtige Menschen eher von schweren Erkrankungsformen betroffen sind bzw. früher versterben als Menschen mit Übergewicht. Verzerrungen von Studienergebnissen können ferner auch dadurch entstehen, wenn bereits vor Studienbeginn eine Art Selektion unter den Probanden mit Adipositas stattgefunden hat. Wenn beispielsweise Menschen mit einem hohen BMI vergleichsweise früher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen erkranken und vor Erreichen des Einschlussalters in eine Studie versterben, hat dies zur Folge, dass nur tendenziell gesündere Menschen mit Übergewicht daran teilnehmen können.
Um eine Verfälschung der Studienergebnisse durch eine Gewichtsabnahme im Krankheitsverlauf zu verhindern, verwendeten die Wissenschaftler im nächsten Schritt ein Modell, in dem nur neu aufgetretene Erkrankungsfälle (inzidente statt prävalente Fälle) berücksichtigt wurden und welches anstelle des aktuellen Gewichts das Gewicht zum Zeitpunkt der Krankheitsdiagnose berücksichtigte. Und siehe da: Nach diesen Anpassungen ließ sich für keine der untersuchten Krankheiten ein günstiger Effekt einer Adipositas Grad 1 auf die Sterblichkeit belegen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen auch die Wissenschaftler der „Globalen BMI-Mortalitäts-Kooperation“ (Global BMI Mortality Collaboration), nachdem sie die Daten von über 10,6 Millionen Probanden, die an insgesamt 239 Studien teilgenommen hatten, ausgewertet haben. Die durchschnittliche Nachbeobachtungszeit betrug 14 Jahre. Um eine Verfälschung der Studienergebnisse zu vermeiden, schlossen die Wissenschaftler ehemalige und aktuelle Raucher sowie Menschen mit Vorerkrankungen aus ihren Analysen aus. Laut den Ergebnissen dieser riesigen Studie war das Risiko zu versterben bei Menschen mit einem BMI zwischen 22,5 und 25 kg/m2 am geringsten und stieg dann sukzessive. Das höchste Sterberisiko hatten Menschen mit einem BMI zwischen 40,0 und 60,0 kg/m2 (2,76-fach höhere Mortalität als in der Gruppe der Normalgewichtigen). Ab einem BMI von 25 kg/m2 nahm die Wahrscheinlichkeit, an Herz-Kreislauf-, Atemwegs- oder Krebserkrankungen zu versterben, pro Anstieg des BMIs um 5 Einheiten um 49 Prozent, 38 Prozent beziehungsweise 19 Prozent zu.
Aufgrund ihrer Ergebnisse gehen Chang und ihre Kollegen davon aus, dass die bislang berichtete präventive Wirkung einer geringgradigen Adipositas auf Faktoren wie krankheitsbedingten Gewichtsverlust und selektives Überleben zurückzuführen sind. Dementsprechend sehen sie keine Notwendigkeit, Leitlinien zur Behandlung von Krankheiten dahingehend zu überarbeiten, dass eine geringgradige Adipositas als empfehlenswert dargestellt wird.
Quellen einblenden
- V. W. Chang, K. M. Langa, D. Weir, T. J. Iwashynna (2017): The obesity paradox and incident cardiovascular disease: A population-based study. PLoS ONE 12(12): e0188636.
- The Global BMI Mortality Collaboration (2016): Body-mass index and all-cause mortality: individual-participant-data meta-analysis of 239 prospective studies in four continents. The Lancet 338, Seite 776-786
verfasst von Dr. oec. troph. Christina Bächle am 3. April 2018 um 07:44
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